Die nachstehende Geschichte ist so glaubwürdig und wahrhaftig, wie ich sie erdacht habe. Sie spielt irgendwann in der nahen Zukunft. Die folgenden Punkte sind von Bedeutung, das Geschehen zu verstehen und richtig einzuordnen.
Weihnachten gibt es auf Erden immer noch, ebenso Weihnachtsmänner und Rentiere. Sie ziehen die großen Schlitten, beladen mit vielen Geschenken für Jung und Alt.
Alle Weihnachtsmänner sind, zumindest hierzulande, bei der Nikolausi GmbH & Co KG angestellt. Ihre Honorierung erfolgt in Abhängigkeit von der Anzahl der ausgelieferten Weihnachtspäckchen.
Die Rentiere gehören allesamt der Rudolpho Aktiengesellschaft. Jedes Tier trägt den Namen Rudolph. Aus versicherungstechnischen Gründen sind sie durchnummeriert. Unsere Geschichte handelt von Rudolph Nr. 287, einem sehr erfahrenen Rentier. Seine Abkürzung lautet R 287.
Ihm zugeordnet, und das bereits im dritten Jahr hintereinander, ist der Weihnachtsmann Nr. 1895, kurz W 1895 genannt. Die Nummerierung liegt hier weitaus höher. Das kommt von der größeren Fluktuation.
Weihnachtsmänner müssen nämlich ledig sein, was erfahrungsgemäß kein garantierter lebenslanger Zustand ist. Außerdem hat die Rate der Suspendierungen wegen Alkohol auf dem Schlitten in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. Die Nikolausi GmbH & Co KG hat daraus resultierend gewisse Nachwuchsprobleme.
Nun aber zu meiner Geschichte.
Es war wieder einmal soweit. Weihnachten stand vor der Tür und R 287 im Stall von W 1895. Die Tierbehausung hatte zwei Fenster. Von einem aus konnte das Rentier direkt in die Wohnstube von W 1895 schauen.
Der war ein moderner und dynamischer Weihnachtsmann und sehr, sehr technikverliebt. Er kannte sich auf dem Markt für Schlitten bestens aus. Für ihn kamen immer nur die neuesten Modelle in Frage.
Eines Abends bemerkte das Rentier, wie W 1895 im Internet nach Elektro-Schlitten recherchierte. Diese E-Vehikel waren der letzte Schrei. Man konnte sie aus Amerika von der Firma Huber ausleihen. Nach dem Gebrauch, besser gesagt nach dem Fest, wurden sie einfach irgendwo am Himmelszelt abgestellt. Die Firma Huber sorgte später dafür, dass sie wieder eingesammelt wurden. Solange kreisten sie am Firmament und waren störend für den gesamten Flugverkehr.
R 287 erschrak, als W 1895 einen E-Schlitten bestellte. Dadurch wurde im schlimmsten Fall sein künftiger Einsatz entbehrlich. In jeden dieser Schlitten war nämlich, aus optischen Gründen, eine Rentierattrappe eingearbeitet. Auf etwas größere Entfernung war das Gefährt von keinem richtigen Weihnachtsschlitten zu unterscheiden.
Unser Rentier hatte böse Vorahnungen. Wenige Tage später erfolgte die Anlieferung des Monstrums.
R 287 weinte bitterlich, als der Weihnachtsmann kurz darauf den E-Schlitten mit Geschenken belud, auf den Startknopf drückte und leise surrend und farbig blinkend am blauschwarzen Nachthimmel
verschwand.
W 1895 strahlte über das ganze Gesicht. Es war genau so, wie er sich alles vorgestellt hatte. Fast geräuschlos und superschnell.
Gesteuert wurde der E-Schlitten ganz einfach über einen Stick. Die Navigation erfolgte über ein Display. Ein Sprachautomat mit einer engelhaften Stimme gab kurze Richtungsinformationen. Etwas mehr links, ein wenig mehr rechts, nun bitte gerade aus.
Unser Weihnachtsmann kehrte nach seinem ersten Ausflug hocherfreut zurück, um nochmals den Schlitten zu bepacken. R 287 verfolgte den Ablauf genau, wurde aber mit keinem Blick mehr gewürdigt. Alles war so ungerecht. Gestern noch gefragtes Rentier, heute im Stall vergessener Grasfresser.
W 1895 startete erneut. Huiii, frisch wie der Wind ging es Richtung Sternenhimmel.
Nach kurzer Fahrt wurde es unangenehm unruhig im Schlitten. Es ruckelte heftig. Der E-Schlitten kam nur noch stotternd von der Stelle. Ein Lämpchen leuchtete rot auf. Ein schriller Warnton unterbrach die Nachtruhe. Das Gefährt stand. Und nun? Was war geschehen?
Im Display standen einige Buchstaben. In Englisch natürlich: Battery empty! Battery empty? Was bedeutete das? Battery empty? Ach ja, klar, Akku leer!
Tja, damit hatte W 1895 nun überhaupt nicht gerechnet. Vor lauter Begeisterung ignorierte er den rechtzeitigen Warnhinweis über den Akkustand. Nun stand er da. Nichts rührte sich.
Aber zum Glück gab es da noch den „Emergency-Button“ im Touchscreen. Auf Deutsch also den Notfallknopf auf dem Bildschirm. Den drückte der Weihnachtsmann kurzerhand und wartete ab. Sogleich wurden zwei weitere Worte im Display sichtbar: Rescue approaches. Was nichts anderes bedeutete als „Rettung naht“. Nun hieß es geduldig auszuharren.
An W 1895 flitzten zahlreiche herkömmliche Weihnachtsschlitten vorbei, gezogen von genügsamen und gutmütigen Rentieren. Deren Fahrzeugführer blickten ein wenig mitleidvoll zum Elektroschlitten hinüber, konnten sich aber ein Grinsen nicht verkneifen.
Unser Weihnachtsmann musste schmollend und tatenlos zusehen, wie seine Kollegen sehr fleißig die Weihnachtspäckchen verteilten und sich so Vorteile verschafften.
Nach gut einer Stunde näherte sich ein größeres Himmelsfahrzeug. Ebenfalls geräuschlos, knallrot und mit blauen Leucht-LEDs an beiden Seiten. In großen Lettern waren vier Buchstaben erkennbar: AHEC.
„Nie gesehen, geschweige davon gehört“, ging es W 1895 durch den Kopf. AHEC entpuppte sich als Allgemeiner Himmlischer Elektromobil Club.
Danach verlief alles ziemlich flott. Der Akku wurde ausgetauscht, die Bankverbindung abgefragt. »Die Abbuchung erfolgt in den nächsten Sekunden«, murmelte der Helfer und verschwand eilig und still und leise, wie er gekommen war.
W 1895 setzte seine Auslieferung fort. Er hatte viel Zeit verloren. Um einige davon wieder einzufahren, schaltete er die automatische Navigation aus und versuchte sein Glück mit einigen Abkürzungen, die er sich aus früheren Fahrten gemerkt hatte. Sein Rentier Rudolph 287 kannte sich am Himmel aus wie kaum ein anderes Rentier. Daher kannte er diverese Kurzstrecken.
»Wenn möglich bitte wenden!« klang es ohne Vorwarnung aus dem Lautsprecher. W 1895 war vom rechten Weg abgekommen. Er wählte eine andere Route.
»Wenn möglich bitte wenden!« hörte er erneut. »Sapperlot!« fluchte er leise vor sich hin und änderte wiederum die Streckenführung.
»Wenn möglich bitte wenden!« konnte er ein drittes Mal vernehmen. W 1895 stieg die Zornesröte ins Gesicht. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Das Chaos war perfekt.
Doch Aufgeben kam nicht infrage. Dafür war es noch zu früh. Eine nochmalige Korrektur sollte die Wende bringen.
»Wenn möglich bitte wenden!« So, nun reichte es. Genervt tippte W 1895 auf den „Home-Button“ und ließ sich missgelaunt nach Hause bringen.
Trotz technischer Unterstützung und anfänglicher Zeitersparnis hatte er am Ende der Nacht nicht einmal die Hälfte sein Päckchensolls erfüllt. Ein Drama.
W 1895 verstaute wütend den E-Schlitten im Stall und verschwand stinksauer in seiner Wohnung.
R 287 hatte das alles sehr aufmerksam verfolgt. Wer nun meint, es hätte sich Schadenfreude breitgemacht, der irrt. Es war eher Mitleid, das sich abzeichnete.
Am nächsten Tag veranlasste W 1895 die Rückführung des - aus seiner Sicht untauglichen - Elektroschlittens nach Amerika. Zähneknirschend gelangte er zu der Erkenntnis, dass eben nicht jede Erfindung und Errungenschaft, die uns über den großen Teich erreicht, etwas taugt.
Zum Abend hin tat er so, als sei nichts geschehen. Er spannte R 287 vor den Schlitten und zog vollbeladen seine Bahnen.
Sein Rentier legte sich mächtig ins Zeug, als wollte es beweisen, dass es doch viel besser sei als dieser neumodische Elektro-Kram. Und dabei blieb es auch in den folgenden Nächten. Alles lief wie am Schnürchen.
W 1895 zusammen mit R 287 schafften das Pensum gerade noch rechtzeitig. Diese Weihnacht schweißte die beiden endgültig zusammen.
Wenn nun noch W 1895 ledig bliebe und obendrein nicht dem Suff verfallen würde, dann, ja dann hätte das Duo sicher eine lange gemeinsame Zukunft vor sich.
Nun soll es aber genug sein mit dieser kleinen Weihnachtsgeschichte. Es ist höchste Zeit für die Bescherung. Schaut nach, ob Geschenkpäckchen abgeliefert wurden. Mit etwas Glück vielleicht sogar
von unserem unzertrennlichen Gespann.
Klaus-Gunther Häuseler
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