Eine Weihnachtsgeschichte, die dich in eine Zeit versetzt, wo nicht Überfluss, sondern Bescheidenheit und Mangel an der Tagesordnung standen. Die Geschichte von der kleinen
Ursula und ihren größten Herzenswunsch.
Wir wünschen dir spannenden Lesespaß mit dieser kleinen Zeitreise in´s vorige Jahrhundert und ein besinnliches Weihnachtsfest!
Das Püppchen
„Ursula, komm, beeil dich, wir müssen los!“ Ursulas Mutter zog ihrer achtjährigen Tochter den Mantel über und schob sie zur Tür hinaus. Das Austragen der Zeitungen hatte heute länger gedauert als
üblich, denn Schnee war über Nacht gefallen, und sie war nicht so schnell vorangekommen wie sonst. Ursulas Vater galt als vermisst. 1944 war sein letztes Lebenszeichen von der deutsch-russischen
Front gekommen. Um sich und ihre Tochter durchzubringen, hatte sich Ursulas Mutter bei der Lokalzeitung als Austrägerin beworben und war auch prompt genommen.
Die beiden gingen in Richtung Schloss, wo die Mutter obendrein seit zwei Jahren als Reinigungskraft und Mädchen für alles ein paar Stunden am Vormittag arbeitete. Als sie einmal auf ihrem
täglichen Weg als Zeitungsbotin an der Pforte des Schlosses las, dass hier eine Reinigungskraft benötigt würde, hatte sie sofort die Chance ergriffen, denn sie brauchte dringend einen Zweitjob,
das Austragen brachte nicht viel ein. Obendrein lag das Schloss günstig, ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Das Vorstellungsgespräch bei der Gräfin hätte nicht besser laufen können; sie wurde sofort
eingestellt. Das Beste aber war: In den Ferien durfte sie anfangs erst sechs Jahre alte Ursula mitbringen.
In den ersten Nachkriegsjahren war der Schulunterricht unregelmäßig. Es kam vor, dass Ursula nach nur zwei Stunden Unterricht schon Schulschluss hatte oder der Unterrichtganz ausfiel. Dann ging
sie zum nahen Schloss, wo ihre Mutter um diese Zeit arbeitete, und durfte sogar mit der kleinen Adligen spielen. Renate war zwei Jahre jünger als Ursula und freute sich über eine
Spielkameradin.
Ursula wiederum war begeistert von den vielen Spielsachen in Renates Kinderzimmer. Als sie das zum ersten Mal betreten hatte, war sie überwältigt gewesen von dem Reichtum an wunderschönen Dingen,
die es hier gab. Da stand nicht nur eine hübsche Puppenstube, auch ein Kaufmannsladen mit Tresen, Waage und vielen Schubfächern war da. Es fehlte nicht an verschiedenen Gesellschaftsspielen –
Mühle und Dame, ein Angel-, ein Hütchen- und ein Flohspiel. Auch eine Strickliesel gab es und viele andere Spielsachen. Und erst die Puppen!
Ursula stockte der Atem, als sie unzählige Puppen in der Zimmerecke sitzen sah, eine schöner als die andere. Das waren bestimmt mehr als zwanzig liebreizende Geschöpfe. Sie konnte kaum glauben,
dass ein Kind so viele Puppen besaß. Ursula besaß nicht eine, obwohl sie sich seit langem sehnlichst ein Puppenkind wünschte. Als sie kleiner war, hatte sie noch auf den Weihnachtsmann gehofft,
immer vergebens. Jetzt, wo sie nicht mehr an ihn glaubte, hatte sie die Mutter bestürmt. Aber woher sollte die in diesen Zeiten eine Puppe nehmen?
Das hatte sie ihr auch deutlich gesagt: „Puppen sind sehr teuer und kaum zu bekommen. Du weißt ja, dass es nichts zu kaufen gibt. Man braucht Zigaretten oder Schmuck zum Tauschen, aber wir haben
ja nichts.“ Und traurig, mehr zu sich selbst, fügte sie hinzu: „Bis es sie wieder im Laden zu kaufen gibt, wirst du wohl zu alt für eine Puppe sein“, um dann ihr Töchterchen zu trösten: „Du
kannst doch immer mit Renates Puppen spielen.“
„Ja, schon“, antwortete Ursula, „aber das sind keine eigenen.“
Das Spiel der beiden Mädchen endete stets, wenn Ursulas Mutter mit der Arbeit fertig war. Dann gingen sie gemeinsam nach Hause.
Kurz vor Weihnachten 1947, die Ferien hatten angefangen, begleitete Ursula nun täglich ihre Mutter ins Schloss. An einem dieser Morgen eilte sie wie immer in froher Erwartung der schönen Spiele
zu Renate in den ersten Stock. Die forderte sie auf, das Hütchenspiel vom Regal zu holen. Bald waren die beiden Mädchen mit Eifer dabei, die bunten Hütchen in die dafür vorgesehenen Fächer zu
schleudern, die am Boden mit einer Punktzahl versehen waren. Wer am Ende die meisten Punkte hatte, war der Gewinner. Ein Hütchen flog daneben und verschwand unter dem Sofa. Ursula kroch hinterher
und fand dort nicht nur das Hütchen, sondern sah ganz hinten auch eine kleine niedliche Puppe liegen. Die war ihr völlig unbekannt. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals damit gespielt zu
haben.
Die beiden Mädchen setzten das Spiel fort, aber die Puppe unter dem Sofa ging Ursula nicht mehr aus dem Kopf. Wer weiß, wie lange die schon unter dem Sofa liegt, überlegte sie. Womöglich wusste
Renate gar nicht mehr, dass sie diese Puppe besaß, und würde vermutlich nicht einmal merken, wenn sie fehlte. Diese Gedanken ließen Ursula nicht mehr los. Als Renate einmal kurz zur Toilette
ging, nutzte sie die Gunst der Stunde, kroch blitzschnell noch einmal unter das Sofa und angelte sich das Objekt ihrer Begierde. Hastig wurde es halb in den Rock, halb unter den Pullover
gesteckt, der von einer weiten Weste bedeckt wurde. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als Renate wieder hereinkam. Sie saß stocksteif und wagte sich nicht zu rühren.
„Was hast du denn?“ fragte Renate.
„Nichts – wieso?“
„Wollen wir jetzt etwas anderes spielen?“
„Meinetwegen.“ Ursula war erleichtert und konnte kaum erwarten, dass ihre Mutter sie erlöste und zum Heimgehen aufforderte.
Zu Hause versteckte sie ihren Schatz sorgfältig, damit die Mutter ihren Diebstahl nicht bemerkte. Ihr war klar, nur wenn die Mutter nicht daheim war, würde sie mit der schönen kleinen Puppe
spielen können. So stand ihr Entschluss fest, am nächsten Tag nicht mit ins Schloss zu kommen. Am nächsten Morgen täuschte sie vor, krank zu sein und zu Hause bleiben zu wollen. Nach einigem Hin
und Her gab die Mutter nach und meinte: „Dann leg dich ins Bett. Ich bin ja bald wieder da. Lass keinen herein.“ Letzteres sagte sie immer, wenn sie ihre Tochter mal allein ließ.
Ursula wartete noch, bis sie die Haustür ins Schloss fallen hörte und ihre Mutter den Schlüssel umgedreht hatte. Dann sprang sie mit einem Satz aus dem Bett und holte die Puppe hervor. Sie
betrachtete sie voller Stolz und Bewunderung und überlegte, was sie alles mit ihr anstellen könnte. Sie wusste, wo ihre Mutter die Strickwolle aufbewahrte. Auch eine Häkelnadel war dabei. Das
Häkeln hatte ihr die Mama schon vor zwei Jahren beigebracht. So häkelte sie für die Puppe zwei gerade Teile, die sie danach zusammennähte. Ursula fand das Kleid hinreißend und war stolz auf ihr
Werk. Die Zeit verging im Fluge, bald war die Mutter wieder da. Die Puppe musste erneut in ihrem Versteck verschwinden.
Am Tag darauf konnte sie noch einmal eine Krankheit glaubhaft machen, aber danach wurde Ursulas Mutter misstrauisch. Sie fing an, ihrer Tochter auf den Zahn zu fühlen. Die Fragerei war Ursula
äußerst lästig. Ohnehin hatte sie ihr Handeln längst bereut und fand keine rechte Freude mehr an der geklauten Puppe. Ständig musste sie auf der Hut sein, konnte fast nie ungestört spielen, denn
sie war nur selten allein zu Hause. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen und Angst vor Entdeckung. Nie wieder würde sie der rechtmäßigen Besitzerin unbefangen begegnen können. Sie traute
sich aber auch nicht, die Missetat ihrer Mutter zu beichten. Es gab nur eine Lösung: Die schöne kleine Puppe musste bei nächster Gelegenheit zurückgebracht werden!
So nahm das Püppchen, das sie so sehr begehrt hatte, denselben Weg zurück, wie es hergekommen war, nämlich verborgen unter ihrem Pullover. Ursula wartete, bis sich eine günstige Gelegenheit
ergab. Als Renate zwischendurch das Zimmer verließ, holte sie das Püppchen aus ihrer Kleidung und warf es hastig unter das Sofa. Sie war froh, dass alles so glattgegangen war und keiner gemerkt
hatte, dass sie eine Diebin war. Mein Gott, welch eine Erleichterung!
Nun konnte sie wieder unbefangen mit Renate spielen. Zwei Jahre später bekam Ursula zu Weihnachten ihre sehnlich gewünschte Puppe. Ihr Vater war aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und
hatte Arbeit gefunden. Nach der Währungsreform konnte man wieder die neuesten (viele??) Dinge kaufen, und so bekam Ursula eine hübsche, große Puppe zu Weihnachten.
Elke Abt
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Bildnachweis: © Elke Abt