Weihnachtsgeschichte: "Weihnachtsflocken"

Da hat es mich doch glatt erwischt. Jawohl, dieses Jahr hat es mich erwischt. Nein, keine Sorge, eine Grippe oder Erkältung habe ich nicht. Es ist nur, dass ich am Heiligen Abend Dienst habe. Ich bin mal wieder dran. Heuer wurde ich zur Spätschicht eingeteilt.

Damit habe ich übrigens kein Problem, im Gegenteil. Die Früh- oder Nachtschicht mag ich bei weitem nicht so gerne. Dabei soll es sogar Zeitgenossen geben, die mit jeder Form von Arbeit am Heiligen Abend ihre Schwierigkeiten haben. Ich nicht.
Was für einen Dienst ich habe? Ich habe Schneebereitschaft. Nein, ich bin nicht beim städtischen Schneeräumdienst. Ganz etwas anderes: Ich bin Schneeflocke. Ja, richtig, Schneeflocke. Noch nie etwas davon gehört, dass wir Schneeflocken ganzjährig im Schichtdienst aktiv sind? Genauso wie die Regentropfen, über die ganze Welt verteilt. Nein? Na, dann wurde es aber höchste Zeit.

Wir Schneeflocken stehen auf Abruf bereit und fallen zu Boden, wenn der Himmel das will. Und besonders schön ist es, wenn man an Weihnachten dabei ist. Nur dann – und zwar genau am 24. Dezember – wird man zur Weihnachtsflocke.

Es ist einfach traumhaft, im freien Flug der Erde entgegen zu schweben. Insbesondere abends. Von oben sieht man die vielen Lichter, hört die Gesänge aus den Kirchen und Wohnstuben.

Am liebsten lande ich in der Nähe einer Kirchenpforte. Nicht zu nah dran, damit ich nicht wegtaue. Und nicht zu weit entfernt. So weit eben, dass ich gut verstehen kann, was da so alles in der Kirche passiert.

 

Ich lausche dem „Stille Nacht, Heilige Nacht“ und dem „O du fröhliche“. Manchmal gibt es auch „Es ist ein Roß entsprungen“, oder so ähnlich. Könnte auch Ros heißen. Das mit dem „s“ und dem „ß“ ist nicht immer gut zu unterscheiden.

 

Obwohl, bei einer der Ansprachen von dem Versammlungsleiter, das ist der Typ der immer vorne steht und etwas zu sagen hat, hatte ich schon den Eindruck, dass er „s“ und „ß“ sehr bewusst unterschiedlich einsetzte.

 

Er sprach immer wieder mal von der Weißen Weihnacht und ermahnte die Zuhörer zu einer weisen Weihnacht. Das schien einigen nicht ganz zu passen. Sie liefen verschämt rot an oder vergruben sich noch tiefer in ihre hochgeschlagenen Mantelkragen. War ihnen wohl irgendwie unangenehm.

 

Dabei betonte der Redner, ich glaube Pfarrer heißt er, dass eine Weiße Weihnacht doch viel schöner mit einer weisen Weihnacht zusammenpasse. Was damit genau er meinte, weiß ich Schneeflöckchen natürlich nicht. Auch glaube ich nicht, dass es alle Anwesenden verstanden haben. Vermutlich sehr schade, denn das mit dem „weise“ hörte sich schon sehr weise an.

 

So, nun aber voran. Ich muss mich noch hübsch machen und meine Eiskristalle ordentlich polieren. Als Weihnachtsflocke habe ich große Verantwortung und will besonders schön glitzern.

 

Wenn ich Glück habe und der Himmel es so will, lande ich wieder in der Nähe einer Kirchenpforte. Nicht zu nah dran und nicht zu weit entfernt. Dann freue mich besonders auf den Augenblick, wenn die Menschen aus der Kirche strömen und sich alle zurufen: Fröhliche Weihnachten! Und dieses Jahr vielleicht ein bisschen weiser.

© Klaus-Gunther Häuseler, epubli Verlag

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