Die Kälte war spät gekommen in diesem Jahr. An einen wechselhaften und viel zu nassen Sommer hatte sich ein sehr schöner, sanfter Spätsommer angeschlossen, der in einen ebenso milden, ruhigen
Herbst hinübergeglitten war. Stürme, die in manchen anderen Jahren schon im Oktober das Land gebeutelt hatten, waren ausgeblieben, so dass die Wälder und Parks bis weit in den November
hinein in der bunten Pracht ihres herbstlich gefärbten Laubes strahlten. Dann aber ließ die Kraft der Bäume nach. Die wenigen Blätter, die sich nicht von selbst verloren, riss ihnen der Wind von
den Zweigen, und jetzt, im Dezember, sahen sie sehr mitleiderregend aus, wie sie so kahl und nackt in der Kälte standen.
Denn die Temperatur war sehr plötzlich und sehr tief gesunken, was die Menschen in der Stadt überrascht hatte. Sie hatten sich an die wenngleich ungewöhnliche, so doch angenehm milde Witterung
selbst noch zur Wintersonnenwende gewöhnt, und der ausgebliebene Schneefall hatte sie den Winter offensichtlich vergessen lassen.
Zumindest bei der jungen Frau schien das der Fall zu sein, die am späten Abend eines dieser frostigen Tage auf einer wenig belebten Vorstadtstraße in Richtung Stadtrand ging. Sie trug ein
boleroartiges Jäckchen aus rotem Kunstleder, dazu einen engen, viel zu kurzen Rock aus ähnlichem Material, unter dem heraus zwei dünne Blutfäden über ihre Beine herabrannen. Sie fror. Dennoch
ging sie ziemlich langsam, was aber nicht allein auf ihre hochhackigen Schuhe mit den überaus schmalen Absätzen zurückzuführen war; jeder Schritt schien ihr Schmerzen zu bereiten, worauf ein
häufiges krampfartiges Zucken ihres Leibes hindeutete, was sie trotz aller innerer Gegenwehr nicht zu unterdrücken vermochte.
Aber nicht das allein war der Grund für ihre gebückte Haltung, die sie mit unsicherem Schritt nur langsam vorankommen ließ. Die Frau hielt ein Bündel zusammengewickelter wollener Tücher in ihren
Armen, das sie eng an ihren Körper presste, wobei sie immer wieder daran herumzog und - zupfte, wohl aus der Sorge, daß sich die Tücher lösen und auseinanderfallen könnten. Schon bei dem Gedanken
daran, daß dann ihr Baby schutzlos der durchdringenden Kälte ausgeliefert wäre, bekam sie feuchte Augen. Und immer dann, wenn aus der Tiefe der schützenden wollenen Hülle das dünne Quäken eines
fiepsigen Stimmchens zu hören war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
So weinend und von Schmerzen geplagt ging, nein hinkte sie den schlecht beleuchteten Gehweg entlang, immer bemüht, der Straße möglichst nahe zu sein.
Dort nämlich konnte sie noch ein wenig das breitstrahlige Scheinwerferlicht eines Autos ausnutzen, das, um mit ihr auf gleicher Höhe zu bleiben, schon geraume Zeit im Schritttempo neben ihr fuhr
und ihr so einigermaßen leidlich den Weg wies.
Der Wagen war ein noch halbwegs gut erhaltenes amerikanisches Fabrikat früherer Jahre, der Mann am Steuer nur wenig älter als die Frau auf dem Fußweg und im Gegensatz zu dieser auch passender zur
Jahreszeit gekleidet, wenn auch im Stil einer übertriebenen, beinahe schon kitschig wirkenden Modernität. Was ihn mit der Frau auf dem Fußweg verband, war auf den ersten Blick nicht
erkennbar.
Der Mann hatte die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite heruntergelassen und knurrte der Frau ein barsches “Kannst du vielleicht endlich mal ein paar Schritte zulegen? Mein Gott, nun trödel
doch bloß nicht so herum!” zu.
Die Frau trat dicht an das Auto: “Sepp, kannst du uns denn nicht mit herein nehmen? Es ist doch so kalt” bat sie mit zittriger Stimme.
“Nachher auf der Rückfahrt, wenn du das Balg los bist, “wies der mit Sepp Angesprochene sie zurück.
Wieder schoss ihr ein Schwall Tränen in die Augen: “Meinst du denn wirklich, daß ich’s tun muss? Vielleicht könnt’ ich’s doch
behalten ...”
“ ... und lieber Windeln waschen, anstatt zu arbeiten, wie?” fuhr ihr der Mann über den Mund. “Nee, nee, das schmink’ dir mal schön ab.”
“Aber Sepp,” schluchzte die Frau, “es ist doch auch dein Kind.”
Der Mann tippte ein wenig mehr auf das Gaspedal und fuhr der Frau langsam davon. Allerdings nur bis zur nächsten Straßenlaterne, unter der er den Wagen abstellte und verließ. Gelassen
ging er den Weg zurück, der Frau entgegen. Groß und angsteinflößend wirkte er, als er sich ihr in den Weg stellte. Er schob seinen Zeigefinger unter ihr Kinn, drückte ihren Kopf nach oben, und
betont leise - aber mit drohendem Unterton in der Stimme - herrschte er sie an:
“Jetzt will ich dir mal was sagen, du kleines Miststück! Da läßt du dich jeden Tag von einem Dutzend Freier vögeln - und jetzt willst du mir dein Balg unterschieben?! Ja, für wie blöde hälst
du mich denn?! Diesen Scheißdreck, den du mir da vorhin erzählt hast, will ich nie mehr hören, nie mehr - hast du mich verstanden?!
Und schlug ihr bei den letzten Worten zweimal mit dem Handrücken ins Gesicht - nicht gerade brutal, aber immerhin derb genug, daß ihr ein dünnes Rinnsal Blut aus der Nase schoss, über Lippen und
Kinn rann und auf das Wollbündel tropfte, das die Frau jetzt immer krampfhafter umklammerte.
“Du kannst froh sein, daß du es da draußen abgeben kannst”, fuhr der Mann fort, “und nicht hier ...” - wobei er auf ein paar Müllcontainer zeigte, die vor einer Toreinfahrt
standen.
Die Frau hatte vergeblich versucht, sich das Blut, das sich mit ihren Tränen vermischt hatte, aus dem Gesicht zu wischen.
“So kannst du da nicht hingehen,” sagte der Mann, “wenn du so gesehen wirst, denken die gleich sonstwas. Anziehend siehst du jetzt nicht gerade aus - eher wie eine bloody Mary!”
Und er lachte lauthals über den aus seiner Sicht gelungenen Wortwitz. Dann steckte er ihr ein paar Papiertaschentücher zu:
“Da, mach dich sauber. Und dann bitt´ ich mir Beeilung aus!”
Mit schnellen Schritten ging er zurück zu seinem Auto, aber gerade, als er die Tür öffnen wollte, sah er sich plötzlich einem Schwarzafrikaner in dunkler Kluft und mit gestrickter Rollmütze
gegenüber, der unbemerkt aus der Finsternis der hereinbrechenden Nacht vor ihm aufgetaucht war.
“Haben sie einen Euro für einen Arbeitslosen?” bat er mit kehliger Stimme.
“Such dir einen Job, dann verdienst du auch Geld” knurrte ihn der Mann an, schob ihn zur Seite, stieg ein und fuhr langsam der Frau nach, die inzwischen an ihm vorüber und ihren Weg
weitergegangen war.
Der Schwarze ging zurück zu der Toreinfahrt, von der er wusste, daß sie häufig Leuten, die im Leben noch weiter abgerutscht waren als er, als Nachtlager diente. Wer nicht nur arbeitslos war wie
er, sondern dazu noch alt, gebrechlich und ohne ein Dach über dem Kopf, der fand hier, in einer Häuserdurchfahrt, deren abgelegenen, verwinkelten Ecken selbst vom kältesten Nordwind nicht
erreicht wurden, eine geschützte Stelle, die ihn die harten Winternächte überstehen ließ.
Der Afrikaner brauchte nicht lange, bis er die beiden, die er suchte, gefunden hatte. Sie waren eben dabei, sich für die Nacht einzurichten, mit zerschlissenen Tüchern, alten Zeitungen und
Pappkartons, die ihnen Ersatz waren für Himmelbett und Daunendecken. Als ihnen aber der Schwarze erzählte, welch eigentümlichem Paar er über den Weg gelaufen war, was sich abgespielt hatte
zwischen der Frau und dem Mann, und daß ihm die Sache nicht ganz geheuer sei - da ließen sich die beiden Berber nicht lange bitten. Sie legten ihre wenigsten Habseligkeiten übereinander -
wissend, daß nichts abhanden kommen würde bis zu ihrer Rückkehr - und folgten zusammen mit dem Schwarzen in einiger Entfernung dem ungleichen Paar.
Das hatte schon bald die letzten Häuser der kleinen Stadt hinter sich gelassen. An einer eingezäunten Weidefläche gingen sie vorüber, von wo aus sie ein paar magere Kühe und Ochsen sowie ein
dürrer, schäbiger Esel mit ausdruckslosen Augen anstarrten.
Hier draußen gab es keine Straßenbeleuchtung mehr. Nur der sich langsam vorwärtsbewegende Lichtkegel des Autoscheinwerfers wies der Frau mit dem Kind und dem Mann im Auto den Weg.
Zwischen den beiden fiel kein Wort mehr. Sie hatten nicht mehr lange zu gehen, bis ihnen aus der Dunkelheit der Nacht ein in ein lichtes Waldstück eingebetteter Gebäudekomplex
entgegenleuchtete.
BETHLEHEM - STIFT stand in weithin sichtbaren
Neon-Buchstaben auf der Fassade, darüber strahlte das große rote Kreuz. Sie waren am Ziel.
Einige Meter vor dem breiten Eingang, in dessen gläsernen Schiebetüren sich das Licht der Laternen brach, die den Vorplatz erhellten, war in der
Gebäudefront in Brusthöhe eine metallene Klappe eingearbeitet, mit einer bescheidenen Ampel darüber, die aber ausreichte, um die Schrift darauf auch in der Nacht gut lesen zu können: Babys
willkommen.
Dort hatte der Mann sein Auto wieder angehalten, war ausgestiegen und zu der Frau gegangen, die sich zitternd und weinend an die Hauswand lehnte.
“Also”, sagte er und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung der Klappe.
”Sepp ...”, schluchzte die Frau und machte zögernd einen Schritt auf ihn zu.
Der Mann fasste sie an den Schultern, drehte sie herum, und nun, da er hinter ihr stand, schob er sie unnachgiebig vor sich her, die wenigen Schritte bis hin zur Klappe. Er hob den Deckel an und
sagte wieder nur: “Also ...” Diesmal klang es aber schon fast wie ein Befehl. Da legte die Frau ihr Kind unter Tränen in die Klappe, und obwohl der Mann sie sehr schnell schloss, hörte
sie noch, wie ihr Baby hilflos und ängstlich zu schreien begann. Aber im gleichen Moment wurde ihr bewusst, daß sie ihm nicht mehr helfen konnte. Sie war nicht mehr seine Mutter. Sie hatte es
soeben weggegeben. Der Mann, der noch sein Vater war, hatte es so gewollt.
Zitternd vor Kälte und Schmerz und hemmungslos weinend stand sie an der Mauer, keines Gedanken fähig und schon gar keiner Bewegung.
Mit derbem Griff fasste der Mann ihr Handgelenk. “Komm jetzt, “ sagte er, “und hör endlich auf zu heulen.” Und er zerrte sie vom Haus weg, zur Straße hin, wo sein Auto
stand.
Auf dem Weg dorthin begegneten sie den drei Männern, die ihrem Weg gefolgt waren. Aber wiewohl der Mann den Schwarzen wiedererkannte, würdigte er die kleine Gruppe keines Blickes, die auch
ihrerseits dem Paar keine Beachtung schenkte. Und während der Mann und die Frau in das Auto stiegen und in der Dunkelheit der Nacht verschwanden, gingen die drei auf den hell erleuchteten Eingang
des Krankenhauses zu, und als dessen gläserne Türen wie von einer unsichtbaren Kraft zur Seite geschoben wurden, standen sie mit einem Mal vor der großen modernen Rezeptionstheke, hinter der eine
Angestellte in freundlicher Korrektheit ihren Dienst versah.
Die wusste zunächst einmal nichts mit der ungewöhnlichen Besuchergruppe anzufangen, denn alle drei redeten gleichzeitig ungestüm auf die Frau ein, gestikulierten aufgeregt herum und zeigten immer
wieder nach draußen, so, als ob sie die Frau hinter der Theke bewegen wollten, ihnen ins Freie zu folgen. Als diese aber endlich herausgefunden hatte, worum es den späten Gästen ging, wies sie
sie freundlich aber bestimmt zurück, mit einer Bewegung, die wohl ausdrücken sollte, sie wisse schon Bescheid und die drei Männer könnten unbesorgt wieder gehen. Die aber ließen sich nicht
abweisen und redeten weiterhin erregt, wenn auch nunmehr eher bittend, auf die Angestellte ein.
Der Disput wurde erst beendet, als eine Krankenschwester aus einem Seitenflügel geeilt kam, mit einem Bündel wollener, blutbefleckter Tücher im Arm.
“Frau Engel, Frau Engel, “ rief sie der Frau hinter der Tafel atemlos zu.
Die erschrak: “Schwester Angela, was ist denn ...”
“Wir haben ein Findelkind”, unterbrach sie die Schwester, “schnell, rufen sie Dr. Hirt herunter, es muss doch untersucht werden.”
Während die Frau nach dem Arzt telefonierte, waren die drei Männer herangetreten zu der Schwester, die das Kind im Arm hielt, dessentwegen sie hierher gekommen waren.
Von dem war nur das winzige, knittrige Gesichtchen unter den Wolldecken zu sehen. Offensichtlich hatte es sich all seine Angst aus dem Leibe geschrien, denn nun lag es still und sanft und
friedlich in Schwester Angelas Armen und schien zu schlafen.
Der Dunkelhäutige kramte in den Taschen seiner Jobbe, bis er schließlich gefunden hatte, was er suchte: ein billiges, aus dünnen Messingblech gestanztes Kreuz. Das legte er dem Kind auf die
Decke.
Auch die beiden anderen Männer hatten in ihren abgewetzten Jacken nach etwas Schenkbarem gesucht, und einer von ihnen hatte eine kleine, schon halb abgebrannte Kerze gefunden. Die legte er auch
dem Kind auf die Decke.
Der dritte aber, der nicht fündig geworden war in seinen Jackentaschen, ging zu der Bodenvase, die, mit Tannen - und Mistelreisern bestückt, das Foyer des Krankenhauses schmückte, brach einen
kleinen Mistelzweig ab und legte ihn ebenfalls dem Kind auf die Decke.
In der Stadt begannen die Kirchenglocken zu läuten. Durch die Kälte der Nacht klangen die hellen, klaren Töne weit über die Stadt hin, selbst bis hier heraus.
Es war Weihnachten.
Eberhard Figlarek
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